Das Leben

Eines Tages wurde er gefragt, wieso er blau (und nicht braun wie alle anderen) sei, und seine Blätter nicht grün sondern violett. Er hatte die Stirn gerunzelt und gefragt: "Gibt es denn noch mehr wie mich?"
Er stand in einer Senke neben einer munter sprudelnden Quelle. Weit und breit war kein anderer Baum zu sehen. Er war immer allein gewesen. Aber es war seine Welt. Alles war gut so, und er war glücklich. Jedenfalls hatte er das geglaubt. Doch als an diesem Morgen ein kleiner Vogel in die Senke kam, um sich auszuruhen, und es ihn nach seinem sonderbaren Aussehen fragte, brach seine Welt zusammen. Außerhalb der Senke gab es noch etwas anderes. Etwas das er nicht begriff. Er fühlte sich plötzlich einsam. Es gab noch andere...
Er begann sich Fragen zu stellen. Wo bin ich? Woher komme ich? Warum bin ich anders? Wieso gerade ich??? Es war ungerecht. Er wollte auch so sein wie die anderen. Er wollte die anderen sehen! Aber seine Wurzeln hielten ihn fest. Er würde immer allein bleiben... Der Vogel aber flog weiter, kümmerte sich nicht mehr um ihn, und ließ ihn mit seinen Sorgen zurück. Wäre er doch auch ein Vogel und könnte fliegen. Ganz weit weg. Hätte er doch bloß nie erfahren, daß es noch andere wie ihn gab. Doch es war zu spät. Das arglose Vögelchen hatte in wenigen Sekunden das Leben des Baumes zerstört. Er fühlte sich leer, kalt und verlassen. Das heitere Geplätscher der Quelle, das wie eine fröhliche Melodie in der Senke widerhallte, machte ihn unglücklich. Er beschloß, nichts mehr von ihr zu trinken. Seine Blätter fielen ab; er vertrocknete; und starb... Als nach einiger Zeit der selbe Vogel vorbeikam war er traurig. Der Baum der Unsterblichkeit war tot. Von nun an war auch das Leben endlich. Die Tränen, die dem kleinen Vogel auf sein Gefieder fielen, färbten es an der Stelle rot. Seine Schuld sollte für alle Zeit sichtbar sein.
Ob die Geschichte wahr ist weiß niemand, denn der Baum existiert nicht mehr, und auch die Rotkehlchen können uns nichts darüber erzählen.

 

Martina Fritsche 1999