Ein anderes Leben

Ich hatte meine richtigen Eltern nie kennengelernt. Sie hatten mich als kleines Kind in New York zurück gelassen. Ich hatte mich immer gefragt, wann es soweit sein würde, aber nie damit gerechnet, daß sie mich so früh zurück holen würden. Ich hatte mir meinen Vater ganz anders vorgestellt. Irgendwie größer - und unwirklich. Vor mir stand jedoch ein kleiner, untersetzter Mann mit einem rötlichen Schnauzbart und funkelnden Knopfaugen. Er hatte etwas sonderbares an sich, aber ich wußte sofort, daß er mein Vater war. Nun war er da und wollte, daß ich mit ihm komme. Angst hatte ich keine - warum auch? Er sah nicht gefährlich aus. In gewisser Weise hatte ich ihn hier hergeholt, auf dem einzig möglichen Weg. Man ahnt ja nicht, daß gleich so was passiert. Ich wollte bloß Buck, dem Ehemann meiner Wochenendaffäre, aus dem Weg gehen, als ich aus dem Fenster sprang. Wäre auch alles nicht so schlimm gewesen, wenn nicht irgendjemandem eingefallen wäre, ausgerechnet heute den Müllcontainer zu leeren. Ohne Abdämpfung durch den Müll war der Aufprall ganz schön hart. Ich hatte mir den Kopf angeschlagen und war deshalb ein wenig orientierungslos. Nachdem ich aus dem Container geklettert war, bin ich deshalb direkt Buck in die Arme gelaufen. Er ist Boxer von Beruf und hielt es für nötig sofort an mir zu Üben. Ich verlor das Bewußtsein und lag allein auf der Straße, bis ich erwachte und der kleine Mann vor mir stand. Er war ganz plötzlich da und guckte mich an. Wenn ich nicht so verwirrt gewesen wäre, hätte ich vor Schreck bestimmt einen Schlaganfall bekommen. Er sah mir tief in die Augen und sagte: "Komm!"
Ich hatte ein seltsames Gefühl von Vertrautheit zu ihm, also stand ich auf um ihm zu folgen. Mein Kopf tat schon gar nicht mehr weh. Er stützt mich, während wir die Straße entlang nach Hause gingen. Ich blickte noch einmal zurück auf die Stelle an der ich gelegen hatte. Mein menschlicher Körper lag immer noch dort. Von fern hörte ich die Sirenen des Krankenwagens. Sie wurden immer leiser als ein anderes Geräusch erklang, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Es war leuchtend, schimmernd, glitzernd, bunt - hatte alle Farben und doch keine. Was für wundervolle Musik!!!
Endlich ging ich zurück nach Hause...

 

Martina Fritsche 1998